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„Bitte stirb nicht. Lebe”

Aufbau, 384 Seiten, 22 EUR

 „Der verlorene Sohn” (Aufbau, 384 Seiten, 22 EUR) ist der vierte Roman der 1984 in Baku geborenen Olga Grjasnowa. Sie brauchte, des Deutschen wunderbar mächtig, niemanden für   die Übersetzung. Es bedarf keiner Überlegung, ob die Übertragung den Intentionen seiner Autorin   entspricht, ihn besser oder schlechter gemacht hat. Bisher mit Themen aus unserer Gegenwart befasst, greift sie diesmal in die Historie. Sie erzählt, wie der Scheich der muslimischen Bergvölker Dagestans den russischen Gegnern seinen neunjährigen Sohn Jamalludin als Verhandlungspfand gibt. Der Junge wächst in Petersburg in der Nähe der Zarenfamilie auf. Auf bewegende Weise schildert Grjasnowa das Leben am russischen Hof. Großmachtchauvinismus leuchtet da ebenso auf wie Antisemitismus und westliche Arroganz. Über dieses Zeitbild hinaus macht da Buch auf die Bedeutung von Heimatverbundenheit und Identität aufmerksam und ist in diesen Belangen doch wieder sehr gegenwärtig.

Ullstein, 395 Seiten, 24 EUR

Christian Berkel ist ein hervorragender Schauspieler, abr immer mehr entpuppt er sich auch als ein ebenso guter Schriftsteller, der es versteht, erlebte und in ihm gespeicherte Bilder in eine eindringliche Sprache umzusetzen. Seinem autobiografischen Debütroman „Der Apfelbaum” lässt er nun „Ada” (Ullstein, 395 Seiten, 24 EUR) folgen.  Das ist die Fortsetzung der Familiengeschichte mit semiautobiografischen Mitteln: denn Ada ist die fiktive ältere Schwester des Autoren-Ichs. Während des Krieges in Berlin geboren, verbringt sie die ersten Lebensjahre mit ihrer Mutter in Argentinien, während der Vater _ wer ist es? Otto oder Hannes? – im Krieg verschwunden ist. Als sie Mitte der 50er Jahre mit der Mutter nach Deutschland zurückkommt, ist das Land für sie abweisend und fremd, eine Welt des Schweigens. Demenz einer Gesellschaft, die sich nicht der Vergangenheit stellt. Keiner beantwortet Adas Fragen. Sie revoltiert, eine gute 68erin. Berkels Buch geht unter die Haut, fordert heraus zum Erinnern.

Heyne, 368 Seiten, 22 EUR

In die letzten Monate des zweiten Weltkrieges führt der Roman „Vergeltung” (Heyne, 368 Seiten, 22 EUR) des britischen Erfolgsschriftstellers Robert Harris. Während deutsche Ingenieure und Militärs unter Leitung von Wernher von Braun und Rudi Graf (fiktiv) vom besetzten Holland aus V2-Raketen auf da feindliche London ballern, arbeitet die gegnerische Abwehr Kay Caton- Walsh (fiktiv) daran, die mobilen Abschussvorrichtungen zu vernichten. Mit den gewohnten Spannungseffekten versteht es Harris, eine zweite Konfliktebene zu zeichnen: den Machtkampf auf der deutschen Seite zwischen der SS, dem Militär und insgeheim den Widerstand Wollenden.  Beklemmende Atmosphäre: „In Deutschland hat man jetzt drei Wahlmöglichkeiten: . . . „Sie werden von der SS erschossen. Sie werden von der SS eingesperrt, oder sie arbeiten für die SS.” Das sagt Hans Kammler, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS. Wieder einmal ist es Harris gelungen, seinen Fiktonendurch Dokumentarisches Authentizität zu geben, oder Dokumentarisches durch durch an der Wirklichkeit geschulte Fantasie lebendig zu machen.

Aufbau, 150 Seiten, 20 EUR

Nach drei Romanen der südkoreanischen Autorin Han Kang so etwas wie ein großes Prosagedicht: „Weiß” (Aufbau, 150 Seiten, 20 EUR). Weiß, das ist in ostasiatischen Kulturen die Farbe des Todes. Man trauert in Weiß. Han Kang erzählt von einer jungen Frau, die schwer am schnellen Tod ihrer Schwester ganz kurz nach ihrer Geburt trägt. Sie schreibt und fertigt eine Liste weißer Dinge und Erscheinungen, um sich von dem Trauma zu befreien. Die kurzen Texte über ein Wickeltuch, über Nebel, Raureif, Schnee, Schneeflocken, eine Kerze, die seele, Lilienmagnolien, Wolken, Glühbirnen, sand, Glanz, Zuckerwürfel zeichnen sich durch eine klare, elegante Sprache aus. Mit ihren Erinnerungen, Mutmaßungen Beschwörungen versucht die Trauernde, was geschehen ist, rückgängig zu machen:  „Bitte stirb nicht. Lebe.”

Klaus Wilke

 

 

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