Mein Bücherbord Februar 2021

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Neue Thesen an der Schlosskirchentür

Rowohlt, 384 Seiten, 24 EUR

 Als einen richtig schönen historischen Antiroman habe ich „Eroberung” des französischen Autors Laurent Binet (Rowohlt, 384 Seiten, 24 EUR) gelesen. Ein attraktives Buch mit einem wunderbaren prägegestalteten Schutzumschlag. Es „erobert” seine Leser vom ersten Moment an, in dem er es in die Hand nimmt, bis zum Schluss. Binet stellt die Überlegung an, wie hätte sich Europa entwickelt, wenn einst die Wikinger Südamerika erreicht hätten und Kolumbus‘ Mission gescheitert wäre? Die Welt hätte den Atem angehalten: Die Inkas kommen! Was wie ein Schreckensruf klingt, erweist sich als historische Wohltat. Binet konterkarriert, kippt alles, was uns von kriegerischen und sozialen Entwicklungen im europäischen Mittelalter bekannt ist. Die Inkas schaffen die Inquisition ab, führen Religionsfreiheit ein und geben den bis dato feudal und brutal unterdrückten Bauern Rechte. und eines Tages sind an der Schlosskirche zu Wittenberg 95 „andere” Thesen – Sonnenthesen angeschlagen. Regelrechten Lesespaß bereiten die unterschiedlichen Erzählgenres  und der Umgang des Autors mit echtem historischen Personal. Erzählen mit Augenzwinkern nenne ich das.

Hanser, 458 Seiten, 22 EUR

Ein Krimi, der nach seinem (vermeintlichen) Ende noch lange nicht zu Ende ist, ein Naturbuch, das Tieren und Pflanzen in einer unwirtlichen Welt von Sumpf, Salzwiesen und Sandbänken huldigt, ein Liebesroman von heftiger Zärtlichkeit gemeinsamen Wollens und gewalttätiger Schuld, ein Entwicklungsroman vom Erwachsenwerden eines einsam lebenden Mädchens – all das hat Delia Owens nahtlos zu ihrem Buch „Der Gesang der Flusskrebse” (Hanser, 458 Seiten, 22 EUR), nahtlos und atemlos. Das Mädchen Kya wächst allein im Marschland von North Carolina (USA) auf, nachdem alle ihre Eltern und Geschwister aus Angst und Frust und Hass das Weite gesucht haben. Sie gewinnt den Jungen Tate als kindlichen Freund und verliebt sich schließlich. Sie leidet aber unter den Nachstellungen von Chase Andrews, der im Dorf als Sonnyboy   gilt. Und der liegt eines Tages tot am Fuß des Leuchtturms. Hatte Kya ein Motiv? Soziale Misstände, Gewalt in der Familie, Missachtung von Menschen, die anders sind – Delia Owens nimmt unter die Lupe, was das Leben schwer macht.

Aufbau, 238 Seiten, 22 EUR

 „Fast hell” – so der Titel von Alexander Osangs neuem Buch (Aufbau, 238 Seiten, 22 EUR) – sind die Weißen Nächte über der Ostsee und St. Petersburg. Dorthin  reist der Autor mit seinem bekannten Uwe, um in zahlreicen Interviews dessen Lebensweg zu erkunden. Uwe erscheint ihm ein Weltbürger aus der ehemaligen DDR, der ihm als Modellbild für einen geplanten SPIEGEL-Artikel dienen kann. Ein Leben, in das aller Irrsinn, Schmerz, Sehnsucht, Glück ebenso eingeschrieben sind wie die Enttäuschung, die Fremde und die ewige Suche nach dem Paradies hinter der Mauer. In wunderbarer Weise ordnet Osang DDR-Vergangenheit ein, ohne nostalgisch zu sein. Deckt Wiedersprüche in den Menschen auf: „Froh zu sein, etwas hinter sich zu haben, und es gleichzeitig zu vermissen.” „Ich sage ihnen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte…Die Bildung. die ich bekommen habe, war gut.”

(Suhrkamp, 426 Seiten, 24 EURO

„Das lügenhafte Leben der Erwachsenen” von Elena Ferrante (Suhrkamp, 426 Seiten, 24 EURO) ist zwar ein braves Papierbuch, aber wer it allen Sinnen liest, könnte sich durchaus in einem Hörbuch wähnen. Fabelhaft, wie die Autorin Situationen herbei- und weiterführt, wie sie ihre Personen charaktierisiert und durch Dialoge in enge Beziehungen setzt. Erzählt wird eine pralle Familiengeschichte aus dem heutigen Neapel. Das Mädchen Giovanna beginnt in der Pubertät das Auftreten ihres Vaters, seine Aussagen, Handlungsweisen, sein Auftreten in der Familie zu hinterfragen. Sie fühlt da viel Unwahrhaftiges, Unehrliches. Sie fühlt sich zu ihrer Tante Vittoria hingezogen, eine robuste Frau, derb, aber den Freuden des Lebens aufgeschlossen. Für Giovanna gerät die Welt ins Schwanken. Besteht sie nur aus Heuchelei und Lügen?

Klaus Wilke

 

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