„Eine heilige Zeit“ mit einem fairen Deal

0

Der Mailänder Theatermacher Andrea Maria Brunetti blieb zehn Wochen im Zittauer Theaterexil

Zittaus Theaterintendantin Dorotty Szalma erhielt vor reichlich zehn Jahren eine ganz frisch gedruckte Sammlung von neuen europäischen Stücken.  Sie habe nicht alle fertig gelesen, aber eines habe sie wirklich außerordentlich geliebt: „Malamore“. „Ich fragte ihn damals, ob wir es übersetzen dürfen – und haben es denn in Wiesbaden zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht. Er kam dann direkt aus Russland zur Premiere.“ So antwortet die Chefin der Schauspielsparte des Gerhart-Hauptmann-Theaters auf die Frage, woher sie Andrea Maria Brunetti kenne. Der Mailänder gewann damit den Flaiano-Preis für Theater und widmet sich seither Stoffen wie Napoleon, Ubu Roi und Marlowes Faust oder Autoren wie Koltés, Beckett und Camus. Er war im Mai 2019 mit einer Neuauflage von „Malamore“ zu Gast beim hauseigenen internationalen Theaterfestival JOS – und bekam dort den Auftrag für eine ganz frische Inszenierung von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“

Anfang März reiste Brunetti dafür ins Zittauer Dreiländereck – eine Woche später war in Europa alles dicht, vor allem die Landesgrenzen: Der Virus verhinderte dann sowohl seine Premiere am 23. April als auch die Rückkehr nach Mailand. Rund zehn Wochen später, kurz vor der Abreise, gab er sein erstes Interview in jener besonderen Art von Quarantäne, die er als kreatives Theaterexil nutzte. Live am Zittauer Marsbrunnen erläutert der weitgereiste Mailänder des Jahrgangs 1975, seine Zittauer Erlebnisse und warum er sie als eine Art „heilige Zeit“ empfindet. Die Übersetzung dieser trinationalen Begegnung vom Englischen ins Deutsche, ließ sich die Budapesterin Szalma, die in Wien aufwuchs und auch Italienisch spricht, nicht nehmen.

 Erinnern Sie sich noch an die erste Begegnung mit Dorotty Szalma?

Andrea Maria Brunetti: Das war zur Premiere in Wiesbaden – da waren wir noch jung… (lacht) Aber wir blieben danach in Kontakt – meist über Skype. Das schlief zwar etwas ein – aber letztes Jahr rief sie mich über Skype an. Das war wirklich ein großer Zufall, ich hatte es jahrelang nicht an. Ich hatte gerade einen Monat zuvor – nach über zehn Jahren – mein Stück noch einmal neu in Italien inszeniert. Nach der Uraufführung und Wiesbaden hatte ich es 2011 noch einmal in St. Petersburg mit russischen Schauspielern inszeniert, dann ein wenig vergessen. Mit der jüngsten Inszenierung, gefühlt die einzig Richtige, wurden wir dann im Mai 2019 zum Zittauer Theaterfestival eingeladen – und ich als Regisseur für „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ nun wieder.

Ihre Berufung ist schon seit der Jugend das Schreiben?

Ja, ich wollte immer schreiben. Ich war schon seit der Kindheit dank meiner Eltern von Büchern umgeben und habe diese Atmosphäre immer sehr genossen. Der erste Schritt war zu erfühlen: Das ist mein Ding, das ist meine Welt. Ich war begeistert von Dostojewski und habe auch ganz jung versucht, Novellen zu schreiben. Es war nie als Job gedacht, sondern als Gefühl, wie mein zu Hause. Es ist schon wie ein Ruf, den man erhört. Man kann es auch unromantisch sagen: Das ist einfach mein Ding! 

Aber warum dann der Weg auf die Bühne?

Ein Freund von mir wollte unbedingt zur Akademie – ich wollte ihm helfen und spielte seinen Partner für die Aufnahmeprüfung. In dem Moment, als ich auf der Bühne stand, um mit ihm zu probieren, merkte ich, dass Theater eine Option sein könnte – eine verdammt gute. Ich spiele Klavier, ich zeichne – und hier kam all das, meine ganzen Interessen, auf wunderbare Weise zusammen.

Das war aber nicht Ihr erster Moment im Theater?

Nein, aber der erste auf der Bühne. Als Zuschauer war ich natürlich schon vorher ganz oft – ich habe Theater von Kind an geliebt – aber auf der Bühne war es noch viel besser.

Das Studium ist aber anders als hier – eher eine Mischform aus Spieler, Dramaturg und Autor?

Ja, wir studieren erst mal alle alles gemeinsam, nach zwei Jahren wird spezialisiert, mein Abschluss befähigt mich zum „Director“, also als Regisseur zu arbeiten. Aber ich sehe mich schon mehr als Autor. Das Studium war zweigeteilt: Dramaturgie an der Scuola di Arte Drammatica Paolo Grassi, Regie an der Scuola d’Arte e Mestieri des Teatro Alla Scala, beides in Mailand.

Das klingt nach freiem Berufsleben?

Ja, ich war nur mal ein Jahr fest, allerdings bei einer Filmwerbefirma. Ansonsten immer frei. Wir leben als Theater-Boheme eher wie Hunde, die herumstreunen… (lacht)

Und wohin führte der Weg bis dato?

Wir haben nach der Akademie sofort unsere kleine Gruppe gegründet, mit Piratenflagge als Symbol. Wir waren das ganze Jahr unterwegs, hauptsächlich in Italien – ein Traum, zu fahren und überall meine Sachen auf die Bühne zu bringen. Auch nach Süden, gen Rom, jährlich zwei Wochen in Neapel – die besten Jahre. Zuvor hatte ich Glück bei einem zweijährigen Stipendienprogramm: 800 Bewerber – und ich war unter den zehn Auserwählten, das waren zwei Jahre des Ausprobierens als Regisseur.

Sie waren auch in Argentinien und Russland?

Argentinien war ein Glücksfall – eine Einladung zur Tournee mit Marlowes „Faust“, so auch zum internationalen Wandertheaterfestival „El teatro del Mondo“ mit vielen Stars. Russland hat mich schon seit der Kindheit vor allem literarisch fasziniert: Puschkin, Tschechow, Dostojewski. Ich wollte Land und Leute immer selbst kennenlernen. Dann hatte ich eine russische Freundin – eine Schauspielerin, die in Mailand lebte. Mit ihr bin ich, kurz nach der Argentinien-Tournee, nach St. Petersburg gegangen, um ihre Heimat und ihre Familie kennenzulernen. Sie machte mich mit dem Dekan der dortigen Schauspielakademie bekannt – einem verrückten Typ, der gerade einen neuen Vierjahreskurs über Boccaccios „Il Decamerone“ machen wollte. Er sagte mir: Es gibt nicht viel Geld, aber ich mache Dich zum Pädagogen. Wenn Du die russische Theatertradition wirklich kennenlernen willst, ist das hier der beste Platz. Ich ging erst einmal zurück nach Italien und war unsicher. Und dachte, dieser Kerl ist wirklich verrückt: vier Jahre für „Decamerone“. Aber dann blieb ich diese vier Jahre dort und wir machten noch viel anderes – meine damalige Freundin ging rasch zurück nach Mailand und lebt jetzt in Paris.

Was hält Sie als Autor am Theater?

Ich finde, ich bin als Dramatiker besser aufgehoben als als Schriftsteller. Es macht auch viel mehr Spaß.

Gibt es Themen, die Sie besonders interessieren oder solche, die Sie generell meiden?

Das ist eine komplizierte Sache. Mich interessiert vor allem die menschliche Natur, die zwischenmenschlichen Beziehungen – immer an der Grenze zwischen Realität und Imagination. Was ich am Theater liebe: Alles was geschieht, ist viel metaphysischer als in anderen Kunstbereichen – zum Beispiel Film oder Literatur. Du kannst auch verschiedene Sprachebenen mischen: Alltag, Poesie, Gott. Du brauchst nur drei schwarze Bänder und drei gute Darsteller – alles, was passiert, passiert hier im Jetzt. Und es passiert jedes Mal anders. Es ist wie Konzert über das menschliche Dasein.

Gibt es besondere Traditionen oder Theaterschulen, denen Sie sich zugehörig fühlen?

Oh, da gibt es viel: Ich mag Brecht, ich mag Puschkin und Tschechow oder auch Pirandello. Die Commedia dell’arte liegt natürlich in meiner DNA. Und man darf nie Shakespeare vergessen. Ich denke, Theater ist wie eine Box – ein Raum, in dem man Tradition immer neu vermischt.

Brunettis Regiearbeit fiel aus, er blieb aber im Zittauer Theaterexil und schuf ein neues Werk: „Die letzte Stunde der Nacht“ – zwei Akte und ein Intermezzo.
Foto: Andreas Herrmann

Was dachten Sie, als Sie das Angebot für Albees „Virginia Woolf“ in Zittau erhielten?

Es war Dorottys Idee. Aber ich war sehr glücklich und dachte: Mit amerikanischem Halbrealismus kann ich gut arbeiten. Und es gibt eine Verbindung zwischen „Malamore“ und Virginia. Beide erzählen über sehr starke, sehr dunkle Beziehungen zwischen Mann und Frau. Ich wollte alles Unnötige weglassen und mich nur um die Figuren als Tiere im Dschungel kümmern. Leider wurde schon vor Probenbeginn alles abgesagt, wir hatten einen guten Plan und schon ein wunderschönes Bühnenbild.

Springen wir zurück: Mitte Februar in Mailand …

Da arbeitete ich gerade als Filmregisseur an einem Vierteiler fürs Fernsehen. Es geht um das Leben der zweiten Generation muslimischer Immigranten in Europa und deren Probleme und Radikalisierung. Wir waren sehr auf die Arbeit fokussiert und haben den Ausbruch der Coronakrise wirklich nur am Rande mitbekommen. Am 7. März war der Dreh beendet, ich war Samstagnacht im Restaurant, dort liefen die Nachrichten: Sie wollen die Grenzen schließen.

Und dann sind Sie sofort nach Zittau gedüst?

Ich habe damals nicht wirklich über Corona als Krankheit oder Virus nachgedacht. Ich dachte: Ich habe hier einen Auftrag, den ich erfüllen muss. Also habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin über die Schweiz nach Deutschland gefahren – schon eine Woche vor Probenbeginn. Erst in der ersten Nacht hier bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich direkt aus der Lombardei komme, dem Epi-Zentrum. Ich habe die Nachrichten gesehen und mich verantwortlich gefühlt. So habe ich mich selbstständig in Quarantäne begeben und zweimal freiwillig – zum Glück negativ – testen lassen, damit ich niemanden gefährde. Das war gar nicht so leicht, ehe sich ein Arzt dazu bereit erklärte. 

Und dann haben Sie sich fürs Zittauer Theaterexil entschieden?

Ja, das Theater war so nett, zu sagen: Wenn ich möchte, kann ich bleiben. Es war ja dann nach der Absage überall Chaos und alle Grenzen dicht. Das Theater besorgte mir sogar ein Piano – das war sehr wichtig. Ich hatte lange die Hoffnung, dass sich doch etwas ändert und wir doch noch hier spielen können. Aber nach zwei Wochen war klar: Das wird nix mehr. Dann habe ich ein neues Stück angefangen, man konnte ja absolut fokussiert arbeiten.

Also echte Schreibaskese im geschlossenen Dreieck?

Ja, das empfand ich durchaus auch als Glück. Man hatte plötzlich Zeit, die ganze Situation war absolut   sonderbar – sie bleibt sicher in meiner Erinnerung als eine Art heilige Zeit. Hier in Zittau macht die Leere die Stadt noch schöner – man sieht die Architektur in größeren Perspektiven. Die wunderschönen Häuser, ein bisschen heruntergekommen – das ist so magisch, da vermutet man Geschichten dahinter.

Wozu das Piano?

Das Stück handelt von Bachs Inventionen. Es geht um Kunst, Macht, Gesellschaft und Sorgen – aber nicht direkt. Die Inventionen fassen das – sehr gut kontrapunktiert – zusammen. Sie können zwischen den Themen springen, die Musik fasst alles zusammen.

Sie haben, pünktlich zur Premiere, dann einen kleinen Facebookfilm produziert – „a latin teutonic Short Movie“ von „Missing Theatre Productions“?

Ja, ein kleiner Spaß – als Dankeschön.

Sieht schon nach ein bisschen Arbeit und ziemlich professionell aus …

Na vielleicht einen Tag – war alles mit dem Handy gefilmt und dann am Laptop geschnitten.

Was bleibt denn noch von Ihrem Zittauer Schreibexil?

Na ja, das neue Stück – in Deutsch „Die letzte Stunde der Nacht“. Vielleicht wird es ja hier uraufgeführt. Es hat zwei Akte und ein Intermezzo. Ich kam also her, um ein Stück zu inszenieren – und gehe zurück mit einem anderen Stück. Das war zwar schon in meinen Kopf, aber noch in keinem Zeitplan verankert. Das ist ein absolut fairer Deal.

Haben Sie Ihre Heimat nicht vermisst?

Nein. Mir ging es hier gut, ich war beschäftigt – im Gegensatz zu Mailand konnte man hier ja auch alleine raus. Sie müssen wissen: Wie alle meine Freunde liebe ich das lebendige Mailand, aber es ist nicht so schön wie der Rest Italiens. Rom ist leer schön, Mailand ohne Leben und Leute ist sinnlos. Natürlich habe ich mich um meine Eltern gesorgt und sehr genau verfolgt, was in Italien los war. Jeden Tag. Alle waren eingesperrt, zum Glück hat sich niemand angesteckt.

Können Sie das Leben mit der Seuche in Mailand und Zittau vergleichen?

Nicht wirklich. Als ich wegfuhr, war ja noch alles offen. Ich war die ganze Zeit hier in Zittau – die Unterschiede werden sich erst im Nachgang offenbaren.  

Was erwartet Sie jetzt bei der Rückkehr in Italien?

Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich muss zurück.

Eine Woche später nach der Rückreise, die kurze Nachfrage gen Italien:

Wie hat sich die Welt verändert?

Meine Rückfahrt verlief recht problemlos, nur an der italienischen Grenze wurde ich arg kontrolliert und musste alles vorweisen, also auch die beiden Negativtests aus Zittau. In Mailand hatte ich nur eine Stunde mit meiner Familie – auf Abstand, ohne Umarmung. Für uns Italiener schon nicht so leicht. Dann ging es sofort in zweiwöchige Quarantäne, meine Eltern haben zum Glück ein Haus an der ligurischen Küste. Dort schreibe ich gerade das Stück endgültig fertig. Der Bürgermeister ruft mich hier jeden Morgen an und fragt, wie es mir geht.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Andreas Herrmann

Shortmovie: https://www.facebook.com/Gerhart.Hauptmann.Theater/videos/233333244404585/

 

 

Teilen.

Hinterlasse eine Antwort